Jeder Absolvent mit Abschluss ist möglich

, welchen wir hier veröffentlichen…
 
… zur aktuellen Dokumentation der Bertelsmannstiftung:  “Jugendliche ohne Hauptschulabschluss” … denn:
 
:: Für Verbesserungen lohnt Erfahrungen zu verwerten: Schulabbrecher-Stadt Leipzig
 

10 Prozent! 10 Prozent der Leipziger Schüler hat im vorletzten Schuljahr den Lernort ohne Abschluss verlassen. Damit ist die Stadt Schlusslicht in Sachsen und deutlich schlechter als der Bundesdurchschnitt. Dass das nicht sein muss, hat zuletzt ein Projekt im Leipziger Osten nachgewiesen. Wolfgang Gärthe leitet seit neun Jahren das Projekt „Schule mit Zukunft Leipzig Ost“. Der langjährige Geschäftsführer der Euro-Schulen-Organisation und heutige Rentner erzählt, was es brauchte, damit Schüler in diesem Stadtteil erfolgreich lernen können.

Foto: Bernd Görne

Herr Gärthe, Sie koordinieren schon seit 2009 das Projekt „Schule mit Zukunft Leipzig Ost“. Was machen Sie da genau?

Ich begleite sechs Lernorte – eine Kita, zwei Grundschulen, zwei Oberschulen und ein Berufsvorbereitungsjahr – im Leipziger Osten. Für diese werden zusätzliche Förderungen finanziert. Konkret funktioniert es so, dass die jeweiligen Leitungsteams analysieren, wo sie Defizite in ihrer Einrichtung haben. Die Defizite versuchen wir dann durch Förderung auszugleichen. In sogenannten Brennpunkten, wie auch im Leipziger Osten, geht es zum Beispiel um „Erlebnis lernen“.

Es leben dort Kinder, die nie in einem Theater waren, ihr Wohnumfeld nicht verlassen haben. Diese Lücke gleichen wir aus. Uns geht darum, diese Kinder auf eine Teilhabe in diesem Land vorzubereiten, dazu sind diese Erlebnisse notwendig. Natürlich geht es aber auch um Defizite in Mathe oder beispielsweise Deutsch.

Sie wohnen in Aschaffenburg. Warum sind Sie ausgerechnet in Leipzig engagiert?

Wie viele Westdeutsche bin ich in der Wendezeit aus Neugier und Wertschätzung nach Ostdeutschland gereist, war in Weimar und bin dann in Leipzig hängengeblieben, auch emotional. Das Projekt hat sich aus meiner Zusammenarbeit mit Dr. Arend Oetker ergeben. Ich gebe vor allem Know-how, er das Geld.

Wie sieht Ihr Zwischenfazit nach neun Jahren Projektarbeit aus?

Das Engagement lohnt sich, nach allem, was wir von den Schülerinnen und Schülern wissen. Die Voraussetzungen verbessern sich, Schüler erreichen vermehrt einen Schulabschluss. Wenn dann als Nebeneffekt das grundsätzliche Leben in der Schule besser wird, weil der Schüler motivierter in die Schule geht und damit auch andere ansteckt, ist es umso besser. Also ist es auch eine grundsätzliche Hilfe für den Lernort.

Woran fehlt es manchen Kindern im Leipziger Osten, dass sie nicht erfolgreich lernen können wie andere?

Der Leipziger Osten, übrigens auch Grünau und Paunsdorf, sind Stadtteile mit besonderem Bedarf, aber in Deutschland gibt es in den sogenannten Brennpunkten dieselben Befunde. Es sind positive Erlebniserfahrungen, die fehlen. Diese Erlebniserfahrungen fördern aber, dass Kinder die Notwendigkeit sehen, sich freiwillig, also aus Interesse an Lehr- und Lernprozessen, zu beteiligen. Vielen Kindern fehlen positive Vorbilder. Partizipation erleben diese Kinder ebenfalls nicht.

Das fängt bei ganz banalen Dingen an: Eine Studie der Universität Cardiff hat vor drei Jahren ergeben, dass Schüler mit Frühstück mindestens eine halbe Note besser sind als andere ohne. In Deutschland kommen 300.000 Schüler ohne Frühstück in die Schule. Wenn wir nicht wollen, dass Menschen verloren gehen, dann muss auch das Defizit Frühstück ausgeglichen werden.

Eigentlich müssen das Eltern sichern. Aber wenn nicht, muss dafür gearbeitet werden, Eltern zu befähigen oder in den Grundschulen Frühstück angeboten werden. Die Schauspielerin Uschi Glas hat dieses Thema in Deutschland in den Fokus gerückt.

Ich habe den Projektbericht der Oberschule in Paunsdorf gelesen. Dort konnte eine Klasse über einen längeren Zeitraum intensiv gefördert werden. Welche Maßnahmen haben Sie dort ergriffen?

Die Schulleiterin Frau Fischer ist die Macherin – eine hervorragende Führungskraft. Diese Schule hat beispielsweise mittlerweile einen Trainingsraum. Wenn in einer Klasse ein Schüler stört ohne dass der Lehrer dauerhaft für Ruhe sorgen kann, geht der Schüler in den Trainingsraum. Dort arbeitet eine Lehrkraft, die den gesamten Tag im Trainingsraum zur Verfügung steht, mit dem Schüler den Vorfall auf.

Wie Schulabbrecherquoten wirksam gesenkt werden können … Foto: Bernd Görne

Seit es diesen Raum gibt, haben sich die Ordnungsmaßnahmen halbiert. Ich sage jetzt aber nicht, dass es einen Trainingsraum braucht und dann ist alles geregelt. Es ist einer von vielen Bausteinen. Die Schule hat die Programmarbeit forciert, hat eine Lernwerkstatt eingerichtet, pro Klasse gibt es zwei Klassenlehrer. Es ist ein Gesamtkonzept wie in jedem Betrieb, der Ressourcen hat, in dem Menschen angestellt sind und der Ziele erreichen will.

Hier zählen dieselben Fragen: Was habe ich, wo will ich hin und welche Defizite bestehen? Ein Defizit waren die Störungen und die hat man mit den Maßnahmen halbiert.

Jeder Schüler, der von Klasse 7 bis 10 teilgenommen hat, hat einen Schulabschluss und eine Ausbildung. Der Aufwand war allerdings enorm. Neben dem persönlichen Engagement wurde dafür auch über eine halbe Million Euro investiert – an einer Schule. Geht es heutzutage nicht mehr anders?

Zunächst ist ganz wichtig – an den Investitionen beteiligten sich auch das Innenministerium und die Stadt Leipzig. Wenn man alles runterrechnet, kommt man auf 160 Euro pro Schüler und Monat. Wenn man es aber so macht wie in dieser Situation, dann bekommt man es nicht billiger. Defizite zu beheben braucht auch Geldeinsatz. Und wenn sie Schüler ohne Abschluss ins Berufsvorbereitungsjahr oder in andere Arbeitsmarkt-Maßnahmen schicken, dann wird das ein Fünf- bis Zehnfaches kosten.

Das Vorhaben „Jeder Absolvent mit Abschluss“ ist möglich. Leipzig muss im Ranking der Schulabbrecher nach wie vor besser werden und wir haben gezeigt, dass man es verbessern kann. Leipzig wird eine grundsätzliche Verbesserung schaffen.

Lehramtsstudenten helfen bei der individuellen Förderung der Schüler. Wie sind die Bewerberzahlen und die Erfahrungen der Studenten?

Im Durchschnitt sind immer fünf im Einsatz. Die meisten sind länger beschäftigt, meist zwei bis drei Jahre. Sie melden uns zurück, dass sie durch die Erfahrung besser auf den Lehrereinsatz vorbereitet werden. Denn so kommen sie früher kontinuierlich zu praktischer Arbeitserfahrung und die Schüler profitieren natürlich auch von der individuellen Betreuung.

Was würden Sie gern mehr tun?

Ich würde am liebsten gern weiter dazu beitragen, neben den Kommunen und Ministerien das Leben von Kindern grundsätzlich zu verbessern. So macht Demokratie, gesellschaftliche Teilhabe auch Sinn. Wir leben in einem schönen und guten Land. Da teilzuhaben kann auch bedeuten, sich, wie ich es tue, in diesem Umfeld zu betätigen und dafür zu sorgen, dass Kinder individuell ihre Fähigkeiten entwickeln können.